Die Gefühlswelt der Kinder verstehen

– Andrea Auerswald © 2025
Andrea Auerswald
7. Juni 2025
Gefühle sind die erste Sprache der Kinder.
Erfahren Sie, wie wir kindliche Emotionen ernst nehmen, ihnen Raum geben und sie begleiten können — damit Kinder lernen, sich und ihre innere Welt anzunehmen.
Wer die Welt mit Kinderaugen betrachtet, betritt ein Reich, das von intensiven
Empfindungen, feinen Nuancen und ursprünglichen Emotionen durchdrungen ist. Gefühle
sind für Kinder weit mehr als bloße Reaktionen auf Ereignisse – sie sind Grundpfeiler ihrer
Identität, Wegweiser in einer oft noch unübersichtlichen Welt.
Gerade in den frühen Lebensjahren sind Emotionen die erste Sprache, die Kinder
beherrschen, lange bevor Worte ihren Ausdruck vervollständigen. Sie geben Aufschluss
über Bedürfnisse, über Freude und Schmerz, über Nähe und Abgrenzung. Gefühle sind keine
Nebensache, sondern der Kern kindlicher Existenz. Deshalb ist es eine der vornehmsten
Aufgaben Erwachsener, die Gefühlswelt der Kinder ernst zu nehmen — nicht als kleine
Regungen, die man belächelt, sondern als essenzielle Botschaften einer jungen Seele.
Zentral ist dabei die Anerkennung der sogenannten Grundgefühle. Diese bilden das
emotionale Fundament jedes Menschen und sind universell, kulturübergreifend gültig. Die
Forschung, namentlich durch die Arbeiten von Paul Ekman und anderen, identifiziert
klassischerweise sechs Grundgefühle: Freude, Traurigkeit, Angst, Wut, Ekel und
Überraschung.
Freude ist das wohl offensichtlichste Gefühl, sie verbindet, inspiriert und schafft
Gemeinschaft. Traurigkeit erlaubt es, Abschied zu nehmen, zu verarbeiten und loszulassen,
und sie öffnet Räume für Mitgefühl. Angst schützt vor Gefahren, weckt Vorsicht und lenkt
den Blick auf mögliche Risiken. Wut hat ihren Platz in der Verteidigung eigener Grenzen
und im Kampf gegen Ungerechtigkeit. Ekel bewahrt uns vor Gefährdungen, etwa
verdorbenen Speisen oder schädlichen Substanzen. Und Überraschung, oft unterschätzt,
öffnet unsere Wahrnehmung, macht uns empfänglich für Neues und leitet Neugier ein.
Diese Grundgefühle begegnen uns bereits in der frühesten Kindheit, oft unmittelbar und
unverstellt. Anders als Erwachsene verfügen Kinder noch nicht über ausgefeilte Strategien
der Emotionsregulation. Ihre Gefühle treten ungebremst hervor und verlangen nach einem
Gegenüber, das nicht urteilt, nicht bewertet, sondern begleitet. Erwachsene sind dabei nicht
Bändiger, sondern vielmehr Dolmetscher kindlicher Emotionen, die mit ruhiger Hand durch
emotionale Stürme führen.
Es genügt nicht, Gefühle lediglich zu benennen oder zu erklären. Kinder brauchen vor allem
eines: Ernstgenommenwerden. Es bedeutet, die Emotion anzuerkennen, ohne sie
kleinzureden oder vorschnell zu lösen. Wer einem traurigen Kind sagt: „Das ist doch nicht
so schlimm“, mag gut meinen, doch übersieht, dass für das Kind in diesem Moment eben
doch alles schlimm ist. Die Botschaft muss lauten: „Ich sehe deinen Schmerz. Ich verstehe
dich.“ Diese Form des einfühlsamen Spiegelns fördert Vertrauen und lehrt Kinder, dass ihre
Gefühle berechtigt und wertvoll sind.
Darüber hinaus bildet ein solcher Umgang den Nährboden für die Entwicklung von
emotionaler Intelligenz — jener Fähigkeit, Gefühle wahrzunehmen, sie zu verstehen und
angemessen darauf zu reagieren. Daniel Goleman beschreibt emotionale Intelligenz als eine
der entscheidenden Kompetenzen für ein erfülltes Leben. Und sie beginnt genau dort: im
aufmerksamen, ernsthaften Umgang mit kindlichen Emotionen.
Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Förderung der Emotionsregulation. Kinder lernen
durch die Begleitung Erwachsener, ihre Gefühle nicht einfach auszuleben, sondern sie
allmählich in Bahnen zu lenken, ihnen Ausdruck zu verleihen, ohne von ihnen überflutet zu
werden. Dieses feinfühlige Lernen geschieht nicht durch Belehrung, sondern durch
Beziehung, durch Vorleben, durch Dasein.
In der praktischen Arbeit mit Kindern empfiehlt sich eine Haltung, die durch Achtsamkeit
und Partizipation geprägt ist. Achtsamkeit bedeutet hier, präsent zu sein, mit allen Sinnen
wahrzunehmen, ohne vorschnell zu interpretieren oder zu bewerten. Es heißt, das Kind in
seiner Ganzheit zu erfassen — mit seinem Lachen, seinem Zorn, seiner Traurigkeit.
Partizipation wiederum eröffnet Kindern Räume, ihre Gefühle in Entscheidungsprozesse
einzubringen — sei es in alltäglichen Situationen oder bei der Gestaltung gemeinsamer
Erlebnisse. Emotionen werden so nicht nur gespiegelt, sondern auch wertgeschätzt und
ernsthaft in soziale Prozesse eingebunden.
Ein Kind, das lernt, dass seine Gefühle Gehör finden, wächst in der Überzeugung auf, dass es
selbst bedeutsam ist. Es entwickelt Resilienz — die Fähigkeit, Herausforderungen
standzuhalten und an ihnen zu wachsen. Resiliente Kinder sind nicht Kinder, die keine
schwierigen Gefühle kennen, sondern solche, die gelernt haben, mit ihnen umzugehen.
Nicht zuletzt bedeutet der feinfühlige Umgang mit Emotionen auch, dass Erwachsene sich
selbst reflektieren. Nur wer sich seiner eigenen Gef ühlswelt bewusst ist, kann authentisch
mit den Gefühlen der Kinder umgehen. Es ist ein Wechselspiel von innerer Haltung und
äußerem Verhalten — eine leise Kunst, die mehr bewirkt als jede laute Methodik.
Gefühle sind keine Hindernisse auf dem Weg zur Vernunft, sondern deren Grundlage. Wer
Kinder ernst nimmt in ihrer Gefühlswelt, gibt ihnen nicht nur Trost im Augenblick, sondern
Werkzeuge für ein ganzes Leben — ein Leben, in dem sie sich selbst und anderen in
Achtsamkeit und Mitgefühl begegnen können.
Literaturhinweise:
• Ekman, Paul (1999): *Gefühle lesen: Wie Sie Emotionen erkennen und richtig
interpretieren.* Carl Hanser Verlag.
• Roth, Gerhard (2016): *Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt.* Klett-Cotta.
• Goleman, Daniel (1995): *Emotionale Intelligenz. Warum sie mehr zählt als der IQ.* dtv.
• Hüther, Gerald (2011): *Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer
Mutmacher.* Fischer Verlag.
• Denham, Susanne A. (1998): *Emotional Development in Young Children.* The Guilford
Press.
„Gefühle sind das zarte Geflecht, das das Leben zusammenhält.“ – Unbekannt