Das Echo der Narben

– Andrea Auerswald © 2025
Andrea Auerswald
10. Sept. 2025
Wenn Kriege in den Kindern weiterleben.
Wir tragen nicht nur die Geschichten unserer Eltern und Großeltern, sondern auch ihre Körpererinnerungen
Das Echo der Narben – wenn Kriege in den Kindern weiterleben
Unsere Welt brennt.Nicht überall, nicht zugleich – aber in vielen Regionen der Erde toben Kriege, werden Kinder aus Kellern geboren, wachsen Familien im Schatten von Gewalt und Flucht auf. Während an manchen Orten Frieden und scheinbare Normalität herrschen, verlieren anderswo Menschen täglich ihre Heimat, ihre Hoffnung, ihr Vertrauen ins Leben.
Diese Gleichzeitigkeit ist schwer zu ertragen: Dort Alltag, hier Ausnahmezustand. Dort Kindergeschrei auf Spielplätzen, hier das Schweigen von Kindern, die zu früh erwachsen werden müssen.
Und doch verbindet beides ein unsichtbarer Faden. Denn die Traumaforschung zeigt: Krieg und Gewalt verschwinden nicht mit einem Waffenstillstand. Sie schreiben sich ein – in Erinnerungen, in Körper, in Gene. Was eine Generation erleidet, tragen die Nachfolgenden weiter, oft ohne zu wissen, woher ihre Ängste, ihr Rückzug, ihre innere Schwere rühren.
Wenn ich meine eigene Familiengeschichte betrachte, sehe ich darin nicht nur Vergangenheit, sondern auch ein Beispiel für dieses universelle Erbe. Die Strenge meiner Kindheit, das Schweigen meiner Eltern, die Distanz meiner Geschwister – all das sind keine isolierten Geschichten, sondern Teil eines größeren Zusammenhangs.
Darum erzähle ich. Weil Sprache ein Gegenmittel zum Schweigen ist. Weil Erzählen ein Anfang von Heilung sein kann – für die Vergangenheit, für die Gegenwart und vielleicht für die Kinder, die heute inmitten von Krieg geboren werden.
Kindheit unter dem Gesetz der Strenge
Meine Kindheit war nicht kalt im Sinne von Lieblosigkeit. Es gab Fürsorge – im Praktischen, im Alltag: pünktliche Mahlzeiten, ordentliche Kleidung, das verlässliche Achten auf Pflichten. Und zugleich lag etwas Unausgesprochenes in der Luft: eine Starre, ein luftleerer, ratloser Raum, in dem Gefühle wenig Platz fanden.
Wir mussten gehorchen. Es gab klare Regeln und wenig Widerrede. Freude blieb leise, Wut wurde eingezogen, Trauer verschoben. Nähe war vorhanden – als Verantwortlichkeit –, doch selten als Resonanz. Man kümmerte sich, aber man sprach nicht darüber, was in uns lebte.
Die Bindungsforschung beschreibt, wie bedeutsam diese Resonanz wäre: Kinder brauchen Spiegelung ihrer inneren Zustände, damit sie sich selbst begreifen und beruhigen lernen. Fehlt diese Spiegelung, entstehen innere Modelle von Unsicherheit – nicht weil niemand liebte, sondern weil die Sprache der Gefühle fehlte. In Familien mit Kriegserfahrungen zeigt sich oft genau diese Ambivalenz: funktionale Fürsorge, aber eine emotional verarmte Atmosphäre. Das Nervensystem wählt dann häufig die Starre – eine still gewordene Überlebensreaktion.
So wurde meine Kindheit zu einem Raum zweier Wahrheiten: Liebe, die sich im Tun zeigte – und ein Schweigen, das das Erleben zudeckte. Zwischen diesen Polen lernte ich, aufmerksam zu werden: auf Zwischentöne, auf Blicke, auf das, was nicht gesagt wurde. Diese wache Aufmerksamkeit wurde später zu meinem Kompass.
Das Erbe der Kriegskinder
Die Geschichte begann nicht mit uns. Meine Großeltern waren die eigentlichen Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs – geprägt von Hunger, Kälte, Verlust und Bombennächten. Meine Eltern wuchsen als deren Kinder auf, oft „Kriegsenkel“ genannt: Fürsorge war praktisch, Gefühle blieben häufig ungespiegelt.
Eine zweite Zäsur traf unsere Familie in der Nachkriegszeit: die Flucht meines Vaters mit seinen Geschwistern und seiner Mutter aus der entstehenden DDR, um nicht hinter den Grenzen zu bleiben. Es gab eine zeitweilige Trennung, später fand die Familie wieder zusammen – die Wunde der Unsicherheit blieb. So überlagerten sich Kriegserbe und Fluchterfahrung und prägten das Familienklima – ohne Schuld, als Wirkung von Geschichte.
Transgenerationale Wunden
Die moderne Epigenetik und Traumaforschung erklären, wie solche Erfahrungen fortwirken. Extreme Belastungen verändern das Stresssystem: Hormone, Gehirnreaktionen, sogar die epigenetische Steuerung unserer Gene. Diese Veränderungen können weitergegeben werden.
Studien zeigen: Nachkommen von Holocaust‑Überlebenden, von Kriegskindern oder von Menschen, die Hungersnöte erlitten, tragen oft erhöhte Stressreaktionen, Ängstlichkeit oder Schwierigkeiten in Bindungen (Yehuda et al. 2001; Radebold 2010). Wir tragen nicht nur die Geschichten unserer Eltern und Großeltern, sondern auch ihre Körpererinnerungen.
So wird verständlich, warum viele Familien heute in Distanz, Schweigen oder Rückzug verharren, ohne es erklären zu können. Es ist nicht Bosheit, sondern ein Echo der Vergangenheit.
Familie als Spiegel
In meiner Familie spiegeln sich diese Muster auf unterschiedliche Weise. Mein Bruder zog Mauern hoch – nicht aus Ablehnung, sondern aus Überforderung. Meine Schwester suchte Rückzug – nicht aus Geringschätzung, sondern aus Hilflosigkeit, Nähe zu halten.
Doch wichtig ist: Sie sind beide liebevolle Menschen. So wie auch meine Cousins und Cousinen, die auf ihre Weise warmherzig, freundlich und besonders sind. Niemand von ihnen meint etwas Böses. Jeder trägt seine Einzigartigkeit, seine eigene Würde, seine Menschlichkeit in sich.
Wenn ich den Kontakt aufnehme, begegne ich Zuneigung, Offenheit und Wärme. Doch wenn ich die Brücke nicht baue, bleibt oft die Stille. Es ist nicht Abwendung, sondern eine Art inneres Verharren – ein „In‑der‑Distanz‑Verbleiben“, das die Traumaforschung als Starre beschreibt. Psychotraumatologie unterscheidet drei typische Reaktionen: Kampf, Flucht und Starre. In vielen Familien, die Krieg und Flucht erlebt haben, ist es die Starre, die sich durchsetzt. Sie wirkt wie ein unsichtbarer Mantel: man bleibt, wo man ist, ohne Bewegung – nicht aus Feindseligkeit, sondern aus erlernter Schutzform.
Die Bindungsforschung verdeutlicht, dass Liebe auch dann existiert, wenn sie nicht kontinuierlich gezeigt werden kann. Das innere Band bleibt bestehen, auch wenn es nicht aktiv gestaltet wird. Distanz und Rückzug sind daher nicht das Gegenteil von Liebe, sondern ihre verdeckte Form in Familien, die geprägt sind von Not, Verlust und Schweigen.
So zeigt sich unsere Familie wie ein Mosaik: Nähe und Distanz, Brücken und Pausen, Bewegung und Verharren. Ein vielschichtiges Bild, das nicht auf Schuld verweist, sondern auf Geschichte.
Jeder trägt seinen Teil des Schmerzes
Die systemische Familientherapie beschreibt, dass Schmerz in Familien verteilt ist – wie eine Last, die jeder auf seine Weise trägt. „Jeder trägt seinen Teil des Schmerzes, und jeder entscheidet, ob er ihn weiterträgt oder verwandelt.
“Manche verwandeln den Schmerz in Rückzug, andere in Schweigen, wieder andere in das Bedürfnis, Mauern hochzuziehen. Diese Dynamiken sind nicht bewusst gewählt, sondern Loyalitäten gegenüber dem Familiensystem. Tief im Inneren wirken unsichtbare Gesetze: „Wenn die Generation vor mir gelitten hat, darf ich nicht leichter leben.“ oder „Wenn Nähe gefährlich war, ist Distanz sicherer.
“Die transgenerationale Traumaforschung bestätigt: Diese Muster sind nicht individuelle Schwächen, sondern Ausdruck eines über Generationen weitergegebenen Stress‑ und Bindungserbes. Epigenetische Studien zeigen, dass Erlebnisse von Not, Angst und Flucht nicht nur seelische Spuren hinterlassen, sondern auch biologische Veränderungen, die das Erleben der Nachkommen prägen können.
So tragen wir nicht nur unsere eigene Geschichte, sondern auch die unausgesprochenen Geschichten vor uns. Niemand hat Schuld. Niemand hat „falsch“ gehandelt. Es ist das Erbe einer Zeit, in der Überleben wichtiger war als Nähe – und dieses Erbe lebt fort, bis es jemand bewusst verwandelt.
Meine Entscheidung – Sprache statt Schweigen
Mir war früh klar: Ich wollte nicht schweigen. Ich wollte Menschen begleiten, zuhören, Nähe schenken. Schon als junge Erzieherin im Kindergarten war es mir ein Anliegen, Kinder nicht allein zu lassen, sondern Räume für Geborgenheit und Vertrauen zu schaffen.
Über die Jahrzehnte hinweg ist daraus ein Weg gewachsen. In meiner langjährigen Arbeit als Kita‑Leitung und in vielen Aufgaben im sozialen Bereich durfte ich erfahren, was es heißt, Menschen durch Höhen und Tiefen zu begleiten. Auf diesem Weg haben sich Schätze angesammelt: Begegnungen, Erfahrungen, Einsichten.
Die gewaltfreie Kommunikation hat mir gezeigt, wie kraftvoll Sprache sein kann, wenn sie nicht trennt, sondern verbindet. In der systemischen Arbeit habe ich gelernt, wie Beziehungen in größeren Zusammenhängen verwoben sind, und dass jeder Mensch Teil eines lebendigen Netzes ist. All diese Erfahrungen haben sich nicht als Titel oder Rolle in mir gesammelt, sondern als wachsender Schatz – genährt von der Frage: Wie kann Miteinander gelingen?
So wurde mein beruflicher Weg immer mehr zu einem Lebensweg. Die Entscheidung, Menschen nicht allein zu lassen, war und ist eine Herzenshaltung. Nähe zu ermöglichen, Begleitung zu schenken, da zu sein – das war nie Strategie, sondern innerer Auftrag.
Aus dem Mangel meiner Kindheit wuchs ein Antrieb.Aus der Sehnsucht nach Nähe eine Berufung.Und aus der Berufung ein Weg, der bis heute getragen ist von der Freude, Menschen zu begleiten.
Vom Echo zur neuen Melodie
So ist der Bruch kein Endpunkt, sondern eine Schwelle. An ihr höre ich das alte Echo – und beginne, einen anderen Ton zu setzen.
Verwandlung geschieht nicht in großen Gesten, sondern in kleinen, wiederholten Bewegungen: zuhören, benennen, aushalten, trösten, reparieren. In der Sprache der Forschung heißen sie Mikro‑Interaktionen; im Alltag sind es die leisen Formen von Beziehung, die das Nervensystem beruhigen und Vertrauen neu weben.
Hoffnung ist dabei kein naives Gefühl, sondern eine Praxis. Sie entsteht, wenn wir trotz der alten Muster anwesend bleiben: in Gesprächen, die vergangenes Schweigen nicht wiederholen; in Grenzen, die schützen; in Begegnungen, die niemanden beschämen. So wird aus dem Echo nicht über Nacht, aber Schritt für Schritt eine Melodie.
Wir können die Kriege der Welt nicht allein beenden. Aber wir können Räume schaffen, in denen Wunden nicht verleugnet werden müssen: heilungsfreundliche Orte, in denen Kinder und Erwachsene Resonanz erleben, Sicherheit spüren, Worte finden. Dort beginnt Zukunft – leise, beharrlich, menschlich.Und ich übe jeden Tag: die Entscheidung für Sprache, für Nähe, für Gegenwart. Aus dem, was war, wird so etwas Neues – nicht ohne Narben, aber mit Klang.
Schlusswort
Wenn mir Steine in den Weg gelegt werden, baue ich daraus Stufen. Jede Stufe ist ein Wort, eine Begegnung, ein Atemzug Mut – und aus vielen Stufen wird ein Weg.
Literaturhinweise (Auswahl)
- Ainsworth, M.D.S. (1979): Patterns of Attachment. Lawrence Erlbaum.- Bauer, J. (2006): Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. Piper, München.- Bowlby, J. (1988): A Secure Base: Parent-Child Attachment and Healthy Human Development. Basic Books.- Radebold, H. (2010): Kriegskinder und Kriegsenkel. Das Erbe der Kriegstraumata in der Familie. Klett-Cotta, Stuttgart.- Yehuda, R. et al. (2001): Transgenerational effects of trauma in Holocaust survivors. American Journal of Psychiatry, 158(9).- Zimmermann, P. & Brisch, K.H. (2019): Bindung und Trauma: Risiko und Schutzfaktoren für die Entwicklung. Klett-Cotta.