top of page

Das Flüstern unter dem Lärm

– Andrea Auerswald © 2025

Andrea Auerswald

10. Sept. 2025

„Manchmal beginnt alles mit einem kaum spürbaren Ziehen im Bauch. Gefühle sind unsere erste Sprache – älter als jedes Wort, stärker als jedes Argument. Und doch lernen wir, sie zu verleugnen. Dieser Essay erzählt von der Entstehung und dem Verstummen der Gefühle, davon, warum wir sie verlieren – und wie wir sie wiederfinden können. Ein Plädoyer für die Kunst, dem Flüstern unter dem Lärm neu zuzuhören.“

Es beginnt nicht mit Worten. Noch ehe wir sprechen lernen, kommunizieren wir mit der Welt – durch Schreien, Lächeln, Strampeln. Gefühle sind unsere erste Sprache. Sie sind älter als jedes Konzept, älter als jedes Buch, älter als jede Erklärung. Ein Baby weiß Hunger, Kälte, Nähe. Es schreit, weil es noch keine Worte hat, und dieses Schreien ist kein Lärm, sondern ein Ruf nach Resonanz. In der Antwort – dem Arm, der trägt, der Stimme, die beruhigt – entsteht die erste Erfahrung: Meine Gefühle zählen. Ich werde gehört. Ich bin sicher.

 

So entsteht unser Alphabet des Inneren. Freude, die den Körper hell macht. Angst, die alles zusammenzieht. Wut, die lodert. Trauer, die uns schwer werden lässt. Überraschung, die den Atem anhält. Ekel, der uns abwendet. Diese Grundgefühle, die später von der Forschung beschrieben wurden, sind universell. Sie gehören zu uns, lange bevor sie jemand in Fachbegriffe kleidete.

 

Doch im Laufe der Kindheit beginnt ein zweites Lernen. Wir lernen, dass nicht alle Gefühle willkommen sind. „Hör auf zu weinen.“ „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“ „Reiß dich zusammen.“ Solche Sätze sind wie Siegel, die uns einprägen: Bestimmte Gefühle darfst du zeigen, andere nicht. Freude ist erlaubt, Wut ist gefährlich, Angst wird belächelt, Trauer gilt als Schwäche.

 

So lernen wir, nicht nur Gefühle zu haben, sondern sie auch zu verleugnen. Wir lernen, das Flüstern zu überhören. Wir lernen, schneller zu werden, als unser Inneres reifen kann. Wir wachsen mit einer Geschwindigkeit, die nicht die unsere ist. Wir passen uns an den Takt der Erwachsenenwelt an: funktionieren, liefern, aushalten. Und dabei verlieren wir etwas Kostbares – die Selbstverständlichkeit, uns selbst zu fühlen.

 

Gefühle verschwinden aber nicht, wenn wir sie ignorieren. Sie ziehen sich zurück, doch sie bleiben. Sie nisten sich im Körper ein: in Verspannungen, in Schlaflosigkeit, in diffusen Schmerzen. Sie prägen unsere Beziehungen: wir werden gereizt, distanziert, unzugänglich. Sie beeinflussen unsere Entscheidungen: korrekt, rational, glatt – aber ohne innere Stimmigkeit. Die Neurowissenschaft weiß heute, dass Gefühle wie Marker wirken, körperliche Wegweiser, die uns Orientierung geben. Ignorieren wir sie, verlieren wir nicht nur Lebendigkeit, sondern auch Richtung.

 

Und manchmal bricht die Rechnung unvermittelt hervor. Eine Frau sitzt im Meeting, ihr Bauch zieht sich zusammen, ihr Herz schlägt schneller. Der Gedanke ist da: „Das wird zu viel.“ Doch sie lächelt, sie nickt, sie übernimmt. Monate später sitzt sie im Wartezimmer, Diagnose: Erschöpfungssyndrom. So sprechen Gefühle, wenn sie übergangen wurden.

 

Doch es gibt Wege zurück. Sie beginnen leise. Mit Atemzügen. Mit Innehalten. Mit der Frage: „Was fühle ich gerade?“ Der Körper antwortet zuerst: eine Enge im Hals, ein Ziehen im Bauch, eine Wärme, die sich ausbreitet. Gefühle sind Resonanzen, die wir spüren, bevor wir sie benennen. Und schon das Benennen verändert etwas. „Ich bin traurig.“ „Ich habe Angst.“ „Ich bin wütend.“ Studien zeigen: Das Aussprechen beruhigt das Alarmsystem im Gehirn. Und wenn wir lernen, Situationen neu zu deuten – nicht „Ich bin gescheitert“, sondern „Ich habe gelernt“ – verändert sich das innere Erleben. Worte können Brücken sein, die uns wieder auf festen Grund führen.

 

Kinder lernen diese Sprache nur im Miteinander. Ein Kind weint, und ein Erwachsener sagt: „Du bist traurig, weil dein Freund gegangen ist.“ Ein Kind schreit vor Angst, und jemand antwortet: „Du fürchtest dich, weil der Donner so laut ist.“ In diesen Spiegelungen, von denen Daniel Stern sprach, wächst das kindliche Selbst. Es erfährt: Meine Gefühle sind nicht zu groß. Sie dürfen sein. Sie gehören zu mir.

 

Aber nicht nur Kinder brauchen das. Auch Erwachsene sehnen sich nach Spiegelung. Nach jemandem, der nicht urteilt, sondern da ist. Nach einem Ohr, das zuhört, und einem Blick, der bleibt. Gefühle wollen nicht beherrscht, sie wollen verstanden werden.

 

Wir leben in einer Gesellschaft, die Gefühle oft nur duldet, wenn sie nützlich erscheinen. Teams, die Emotionen nicht benennen, ersticken an Konflikten. Familien, die Gefühle tabuisieren, verlieren Nähe. Eine Kultur, die Gefühle verdrängt, verliert Empathie und Menschlichkeit. Doch dort, wo Gefühle ernst genommen werden, entsteht Vertrauen. Dort wächst Gemeinschaft. Dort entsteht die Fähigkeit, einander wirklich zu begegnen.

 

Vielleicht ist es das, was wir neu lernen müssen: Gefühle wieder zuzulassen. Uns zu erinnern, dass wir nicht nur lernen, Gefühle zu haben, sondern sie auch wieder verlernen können. Dass wir den Mut brauchen, sie zurückzuholen – und dass sie uns nicht schwächen, sondern stärken.

 

Und manchmal braucht es dafür nicht viel. Ein stiller Abend. Ein offenes Fenster. Ein Atemzug. Ein Gedanke, der aus der Tiefe aufsteigt: „Das tut mir nicht gut.“ Oder: „Hier bin ich richtig.“

 

Das ist das Flüstern unter dem Lärm. Es ist nicht das Geräusch der Schwäche, sondern die Stimme der Wahrheit. Wenn wir ihr wieder lauschen, gewinnen wir nicht nur uns selbst zurück – wir öffnen auch den Raum, anderen wirklich zu begegnen.

 

Gefühle sind kein Luxus, sie sind unsere innere Navigation. Sie sind unsere älteste, verlässlichste Sprache. Und sie warten darauf, dass wir sie wieder hören.

 

---

 

Literatur

 

- Ainsworth, M. D. S., Blehar, M. C., Waters, E., & Wall, S. (1978). Patterns of Attachment. Hillsdale: Lawrence Erlbaum.

- Bowlby, J. (1969/1982). Attachment and Loss: Vol. 1. Attachment. New York: Basic Books.

- Damasio, A. (1994). Descartes’ Error: Emotion, Reason, and the Human Brain. New York: Putnam.

- Damasio, A. (1999). The Feeling of What Happens: Body and Emotion in the Making of Consciousness. New York: Harcourt Brace.

- Ekman, P. (1999). Basic Emotions. In T. Dalgleish & M. J. Power (Hrsg.), Handbook of Cognition and Emotion (S. 45–60). New York: Wiley.

- Gross, J. J. (1998). The Emerging Field of Emotion Regulation: An Integrative Review. Review of General Psychology, 2(3), 271–299.

- Lieberman, M. D. et al. (2007). Putting Feelings Into Words: Affect Labeling Disrupts Amygdala Activity in Response to Affective Stimuli. Psychological Science, 18(5), 421–428.

- Siegel, D. J. (2012). The Developing Mind: How Relationships and the Brain Interact to Shape Who We Are. New York: Guilford Press.

- Stern, D. N. (1985). The Interpersonal World of the Infant. New York: Basic Books.

 

---

 

Schlusssatz

„Gefühle sind kein Luxus – sie sind die tiefste Wahrheit unserer Existenz. Wer ihnen zuhört, gewinnt nicht nur sich selbst zurück, sondern schenkt auch der Welt ein Stück Menschlichkeit.“

 

bottom of page