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Im Schatten und im Glanz der Macht –

– Andrea Auerswald © 2025

Andrea Auerswald

9. Sept. 2025

Ein Essay über die Ambivalenz menschlicher Herrschaft

Prolog – Die unsichtbare Hand


Macht. Ein Wort, das hart klingt, fast metallisch, und doch ist es oft unsichtbar, kaum wahrnehmbar. Sie ist nicht nur im Schlag des Hammers, der ein Urteil fällt, sondern auch im leisen Nicken, das Zustimmung signalisiert. Sie steckt in der Stimme, die entscheidet, wer spricht und wer schweigt.


Was ist Macht? Ein Werkzeug? Eine Bürde? Eine Verführung? Sie zieht sich wie ein unsichtbarer Strom durch Gesellschaften, Familien, Institutionen. Manchmal stürzt sie wie ein reißender Fluss, manchmal sickert sie wie ein Tropfen, der Gestein über Jahrhunderte aushöhlt.


Macht bestimmt, ob eine Mutter ihr Kind in einen Kindergarten bringen kann, ob ein Bürger im Amt gehört wird, ob eine Minderheit eine Stimme bekommt. Und sie zeigt sich nicht nur in Gesetzen und Regierungen, sondern in Blicken, Gesten, unausgesprochenen Erwartungen.

Kann man sich ihr entziehen? Wohl kaum. Denn selbst dort, wo keine offensichtliche Macht ausgeübt wird, wirkt sie: als Möglichkeit, als Potenzial, als unsichtbares Band. Wer sie hat, trägt Verantwortung. Wer sie nicht hat, erfährt Ohnmacht.


Die Frage ist: Wie funktioniert sie? Wie wird sie gemacht? Und was geschieht, wenn wir sie missbrauchen oder teilen?


1. Die Herkunft der Macht – Ursprung und Verwandlung


Woher kommt die Macht? Sprache gibt einen Hinweis: Das althochdeutsche maht, verwandt mit mögen, bedeutete einst: Fähigkeit, Vermögen, Möglichkeit. Macht war nicht Herrschaft, sondern schlicht: ich vermag.


Wie konnte aus dieser Möglichkeit eine Herrschaft werden? Wann wurde das Können zum Befehl, die Fähigkeit zur Verfügung über andere? Vielleicht liegt die Antwort in der Angst. Wer stark war, konnte schützen, aber auch bedrohen. Wer klug war, konnte lenken – oder manipulieren.


Philosophen haben Macht auf unterschiedliche Weise gesehen: Hobbes: ohne Macht, so glaubte er, herrsche Chaos. Nur ein übermächtiger Staat könne das wilde Begehren der Menschen zähmen. Weber: nüchtern und klar: Macht ist die Chance, den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen. Arendt: Sie bricht das Muster. Macht ist für sie kein Mittel des Zwangs, sondern entsteht, wenn Menschen gemeinsam handeln. Wo Gewalt beginnt, endet Macht. Foucault: Macht ist kein Besitz. Sie fließt, sie zirkuliert. Sie wirkt in Strukturen, in Schulen, in Gefängnissen, in Krankenhäusern.


Was bedeutet das? Macht ist nie stabil. Sie ist wie ein Netz, das ständig neu geknüpft werden muss. Sie existiert nur, solange sie anerkannt wird. Ein König ohne Untertanen ist machtlos. Ein Lehrer ohne den Respekt der Schüler schreit ins Leere.


Macht ist fragil. Und gerade das macht sie so mächtig.


2. Die Gesichter der Macht


Macht hat viele Gesichter, manche glänzend, manche verborgen. Welche Form tritt uns am häufigsten entgegen?


  • Politische Macht: sichtbar in Gesetzen, Wahlen, Parlamentsdebatten. Aber auch unsichtbar, in den Themen, die gar nicht erst diskutiert werden. Wer entscheidet, was auf die Agenda kommt, hat bereits Macht ausgeübt.


  • Ökonomische Macht: sie liegt im Kapital. Ein Konzern wie Amazon bestimmt nicht nur über Märkte, sondern auch über Arbeitsbedingungen, Innenstädte, Steuerpolitik. Wer Geld hat, gestaltet Realität.


  • Soziale Macht: im Kleinen, in Familien, in Teams. Wer bestimmt, was „normal“ ist, welche Rolle jemand hat, wer gehört wird und wer nicht.


  • Kulturelle Macht: tief eingewebt in Werte, Religion, Tradition. Jahrhunderte lang „wusste“ man, dass Frauen nicht studieren sollten. Nicht, weil es biologisch unmöglich war, sondern weil Macht es so setzte.


  • Biologische Macht: Schönheit, Gesundheit, Körperkraft. Studien zeigen: Attraktive Menschen bekommen häufiger Jobs, bessere Noten, mehr Vertrauen.


Sind diese Gesichter voneinander zu trennen? Wohl kaum. Politische Macht braucht ökonomische Ressourcen. Kulturelle Macht legitimiert soziale Ungleichheit. Biologische Macht wird durch Schönheitsnormen verstärkt.


So entsteht ein Geflecht, in dem jeder Faden den anderen stützt. Wer Macht nur in einem Gesicht erkennt, verkennt ihre Vielschichtigkeit.


3. Macht und Machtmissbrauch


Wann kippt Macht in Missbrauch? Vielleicht dann, wenn sie nicht mehr Mittel ist, sondern Selbstzweck. Wenn sie nicht Verantwortung trägt, sondern das Ego füttert.


Die großen Katastrophen der Geschichte zeugen davon:- Diktaturen, die ihre Völker knechten, von Hitler bis Stalin.- Kolonialreiche, die Länder plünderten, Menschen versklavten, Kulturen zerstörten.- Bürokratien, die so sehr auf Regeln pochten, dass sie Menschen zerbrachen, anstatt sie zu schützen.Doch Missbrauch ist nicht nur Geschichte. Er ist alltäglich:- In einer Beziehung, wenn Kontrolle Liebe ersetzt.- In einem Krankenhaus, wenn über Patienten entschieden wird, ohne sie zu fragen.- In einem Klassenzimmer, wenn Macht durch Demütigung demonstriert wird.


Warum geschieht das? Oft ist es Angst. Die Angst, Kontrolle zu verlieren. Die Angst, bedeutungslos zu werden. Narzissmus, Machthunger, das Bedürfnis nach Bewunderung – sie alle speisen sich aus innerer Unsicherheit.Und doch: Missbrauch ist nie nur das Werk Einzelner. Er entsteht, weil Strukturen schweigen, weil andere wegsehen. Hannah Arendt nannte das die „Banalität des Bösen“: Das Grauen wird möglich, wenn Menschen ihre Verantwortung abgeben und „nur“ funktionieren.


Machtmissbrauch ist kein Unfall. Er ist das Risiko, das jeder Macht innewohnt.


4. Macht und Ohnmacht – die zwei Gesichter derselben Münze


Was bedeutet es, ohnmächtig zu sein? Wer Ohnmacht erlebt hat, weiß: Sie ist kein abstrakter Begriff. Sie ist körperlich. Die Kehle schnürt sich zu, die Hände zittern, die Stimme verstummt. Man weiß, was man sagen möchte – und sagt es nicht, weil niemand zuhört.


Ohnmacht erleben Kinder, die Entscheidungen nicht mittragen dürfen. Patienten, deren Anliegen im Papierstapel einer Kasse verschwindet. Bürger, die im Amt von Schalter zu Schalter geschickt werden.


Ohnmacht lähmt. Sie macht sprachlos, klein, unsichtbar. Aber sie kann auch verwandeln. Viele Bewegungen der Geschichte sind aus Ohnmacht geboren:


  • Frauen, die ihre politische Ohnmacht nicht hinnahmen und für das Wahlrecht kämpften.


  • Schwarze Bürgerrechtsbewegungen, die die Erfahrung von Entrechtung in kollektive Kraft verwandelten.


  • Arbeiter, die Streiks nutzten, um Machtgefälle aufzubrechen.


Ohnmacht kann also zerstören oder mobilisieren. Sie ist wie ein Vakuum: Sie saugt die Luft aus dem Raum, bis Menschen entscheiden, wieder zu atmen.Und sie offenbart eine Wahrheit: Macht existiert nur, solange andere sie hinnehmen. Wer die Zustimmung verweigert, verschiebt das Gleichgewicht.


5. Der konstruktive Umgang mit Macht – von der Bürde zur Verantwortung


Kann Macht konstruktiv sein? Das Wort selbst klingt nach Härte, nach Unterordnung. Und doch gibt es Macht, die stärkt.


Warum fällt es so schwer, Macht loszulassen? Vielleicht, weil sie Sicherheit gibt. Wer Macht hat, glaubt, das Chaos zu kontrollieren. Aber ist es nicht eine armselige Macht, die nur darin besteht, andere kleinzuhalten?


Es gibt eine andere Möglichkeit: Macht, die geteilt wird. Wo Kinder mitentscheiden dürfen, lernen sie Verantwortung. Wo Mitarbeitende gefragt werden, entstehen Ideen. Wo Stimmen gleichwertig sind, wächst Vertrauen.


Die Paradoxie: Wer Macht teilt, verliert sie nicht – sie vervielfältigt sich. Aber ist das nicht riskant? Führt das nicht ins Chaos? Nein. Chaos entsteht, wenn Macht starr bleibt, wenn Vielfalt erstickt wird. Demokratie ist anstrengend, gewiss. Aber sie ist die einzige Form, in der Macht lebendig bleibt.


Vielleicht liegt die Antwort darin, Macht nicht als Besitz zu denken, sondern als Verantwortung. Nicht: „Ich habe Macht.“ Sondern: „Macht geschieht zwischen uns.“


6. Macht in Beziehungen – das tägliche Spiel mit dem Ungleichgewicht


Jede Beziehung ist ein Machtverhältnis. Eltern und Kinder, Partner, Vorgesetzte und Mitarbeitende – immer gibt es ein Ungleichgewicht.


Ist das problematisch? Nicht unbedingt. In gesunden Beziehungen wandert Macht wie in einem Tanz: mal führt einer, mal der andere. Aber in toxischen Beziehungen bleibt sie starr – einer hält fest, der andere wird klein.


Macht in Beziehungen kann Sicherheit geben: Orientierung, Schutz, Klarheit. Aber sie kann auch zerstören: wenn sie als Druckmittel eingesetzt wird.


Ein Beispiel: Ein Partner kontrolliert die Finanzen – und hält den anderen in Abhängigkeit. Ein Lehrer nutzt seine Position, um Kinder zu demütigen. Ein Vorgesetzter entscheidet immer allein – und zerstört damit Kreativität.


Macht lässt sich nicht leugnen. Sie ist immer da. Aber sie lässt sich gestalten. Die entscheidende Frage ist: Wird sie reflektiert – oder blind ausgeübt?


7. Die Paradoxie der Macht – verlieren durch Festhalten, gewinnen durch Teilen


Macht ist voller Widersprüche. Wer sie festhält, verliert sie. Wer sie teilt, gewinnt.


Autokraten regieren durch Angst. Doch sobald die Angst schwindet, bricht ihre Macht. Demokratien sind stabiler, weil sie Macht auf viele Schultern verteilen.


Auch im Kleinen zeigt sich die Paradoxie:


  • Ein Lehrer, der Kindern Verantwortung gibt, erfährt Respekt.

  • Ein Chef, der Transparenz schafft, bindet Mitarbeitende.

  • Wer Macht missbraucht, zerstört Vertrauen – und verliert Einfluss.


Macht ist kein Besitz, sondern ein Verhältnis. Sie lebt nur, solange sie anerkannt wird. Sie ist wie ein Strom: Wenn er geteilt wird, nährt er viele. Wenn er gestaut wird, kippt er.


8. Kreativer Umgang mit Macht – Segel neu setzen


Macht ist nicht nur Bedrohung, sie ist auch Einladung. Sie zwingt uns, Stellung zu beziehen. Manchmal nicht durch Widerstand, sondern durch Umdenken.


„Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen.“ Dieser Satz, Aristoteles zugeschrieben, beschreibt die kreative Seite von Macht: Auch wenn wir sie nicht vollständig kontrollieren können, haben wir die Möglichkeit, ihr anders zu begegnen.


Wie kann das aussehen?


  • Kreativität statt Starre: Wer in einer Konfliktsituation spürt, dass Macht blockiert, kann die Perspektive wechseln. Nicht frontal gegen die Mauer rennen, sondern den Umweg suchen. Widerstand nicht immer als Konfrontation, sondern als Umdeutung.


  • Frühe Prävention: Machtmissbrauch entsteht oft dort, wo Strukturen unkontrolliert bleiben. Regelmäßige Gespräche, Transparenz, Rückkopplungen sind wie Sicherungen im Stromnetz: Sie verhindern, dass Spannung sich gefährlich auflädt.


  • Gegenmacht durch Gewohnheitsbruch: Viele Formen der Macht beruhen nicht auf Gesetzen, sondern auf Gewohnheiten. „Das war schon immer so.“ Wer diese Muster bewusst durchbricht, verändert Machtverhältnisse. Schon das kleine Wort „Warum?“ kann ein System ins Wanken bringen.


Macht ist nicht nur ein Schicksal, das uns trifft. Sie ist ein Material, mit dem wir arbeiten können. Man kann sie verformen, neu denken, umleiten. Wie ein Segel im Wind: Nicht der Sturm entscheidet über den Kurs, sondern wie wir die Leinen setzen.


Epilog – Das Erbe der Macht


Macht ist ein Vermächtnis – und sie ist gestaltbar. Jede Generation entscheidet neu: Wollen wir Macht weitergeben als Instrument der Unterdrückung – oder als Werkzeug der Freiheit?


Das Zepter in unseren Händen ist kein starres Symbol. Es kann verwandelt werden: vom Schwert zur Fackel, von der Bürde zum Auftrag. Macht muss nicht lähmen – sie kann auch schöpferisch werden.


Die Geschichte urteilt nicht darüber, ob wir Macht hatten, sondern darüber, wie wir mit ihr umgingen. Ob wir sie nur hüteten – oder ob wir die Segel neu setzten.


Literatur (Auswahl)


·       Arendt, H. (1970). Macht und Gewalt. München: Piper.

·       Foucault, M. (1977). Überwachen und Strafen. Frankfurt: Suhrkamp.

·       Fromm, E. (1976). Haben oder Sein. München: dtv.

·       Hobbes, T. (1651). Leviathan. London.

·       Lukes, S. (2005). Power: A Radical View. London: Palgrave.

·       Weber, M. (1972). Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: Mohr Siebeck.

·       Elias, N. (1976). Über den Prozess der Zivilisation. Frankfurt: Suhrkamp.

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