Wo Wurzeln wachsen und Stimmen fliegen – Partizipation als gelebte Haltung

– Andrea Auerswald © 2025
Andrea Auerswald
19. Juni 2025
Was bedeutet es eigentlich, beteiligt zu sein – wirklich beteiligt, nicht nur gefragt?
In diesem Fachbeitrag widmen wir uns dem Wesen der Partizipation – nicht als Methode, sondern als Haltung, die vom ersten Lebenstag an wachsen kann.
Dieser Artikel nimmt uns mit auf eine Reise vom ersten Bindungsmoment eines Säuglings über die frühen Formen kindlicher Mitbestimmung bis hin zur oft vergessenen Dimension der Beteiligung im Erwachsenenalter. Dabei wird Partizipation als das sichtbar, was sie im Kern ist: eine zutiefst menschliche Erfahrung von Wirkung, Würde und gemeinschaftlicher Verantwortung.
Für alle, die Partizipation nicht nur lehren, sondern leben wollen – in Bildung, Beruf, Familie und Gesellschaft.
Partizipation – Vom Ursprung zur Haltung
Partizipation – ein Begriff, der häufig verwendet wird und doch selten in seiner ganzen Tiefe erfasst ist. Beteiligung ist nicht nur Mitbestimmung. Sie ist Beziehung, Vertrauen, ein gelebter Ausdruck von Menschlichkeit. Partizipation beginnt nicht erst im Schulalter oder im Berufsleben. Sie beginnt dort, wo ein Mensch das erste Mal erlebt: Ich habe Einfluss. Ich werde gehört. Ich bin Teil von etwas Größerem.
In diesem Artikel soll der Blick geöffnet werden für die tiefe Verwurzelung partizipativer Erfahrung im frühen Leben, für ihre Bedeutung in der Reifung erwachsener Haltungen – und für die Frage, wie wir Partizipation nicht nur als Methode, sondern als Haltung leben können.
Partizipation in der Kindheit – Wie Beziehung zur Beteiligung wird
Noch bevor ein Kind ein Wort spricht, beginnt es, seine Welt zu gestalten. Mit dem ersten Blickkontakt, dem ersten Lächeln, dem ersten ungeduldigen Strampeln im Arm entsteht ein stiller Dialog zwischen Kind und Bezugsperson. Und dieser Dialog ist mehr als Kommunikation – er ist die erste Form von Partizipation.
Wenn ein Säugling schreit und eine erwachsene Person liebevoll reagiert – ihn hebt, ihn beruhigt, ihn wahrnimmt – geschieht etwas Elementares: Das Kind erlebt, dass es eine Wirkung hat. Seine Regung bleibt nicht im Raum stecken, sondern trifft auf Resonanz. Genau hier beginnt Selbstwirksamkeit.
Die Entwicklungspsychologie beschreibt dies als kontingentes Reagieren – also das zeitnahe und passende Eingehen auf Signale des Kindes. Die Bindungstheorie zeigt: Diese frühen Erfahrungen sind der emotionale Urboden, auf dem spätere Beteiligungserfahrungen überhaupt erst wachsen können.
Je älter ein Kind wird, desto differenzierter werden seine Ausdrucksformen – und damit auch die Möglichkeiten, es partizipieren zu lassen. Ein Kleinkind, das mit Gesten zeigt, welches Buch es vorgelesen bekommen möchte, übt nicht nur Entscheidungskraft, sondern erfährt: „Ich darf mich einbringen.“ Diese Erfahrung prägt tief.
Partizipation ist dabei kein Ziel, sondern ein Prozess, der mit jeder neuen Entwicklungsstufe neu gestaltet werden muss. Die Bildungsforschung spricht hier von Ko-Konstruktion: Das Kind gestaltet seine Bildung nicht passiv, sondern gemeinsam mit seiner Umwelt. Doch diese Mitgestaltung braucht Raum – und Erwachsene, die bereit sind, Verantwortung zu teilen.
Nicht das Mitentscheiden an sich ist das Ziel, sondern die Erfahrung: Ich bin wichtig. Ich werde gesehen. Ich darf mitgestalten. Das ist Partizipation in ihrer ursprünglichsten Form – leise, zart, aber wirksam wie ein Samen, der still zu wachsen beginnt.
Partizipation bei Erwachsenen – Verantwortung, Haltung und demokratisches Ethos
Partizipation ist nicht nur eine pädagogische Kategorie – sie ist ein Prinzip des Zusammenlebens. Für Erwachsene bedeutet sie mehr als die Möglichkeit, mitzureden. Sie bedeutet, Verantwortung zu übernehmen: für sich, für andere, für das große Ganze.
Doch viele Erwachsene erleben Partizipation nicht als Einladung, sondern als Illusion. Sie sind geprägt durch Biografien, in denen Mitbestimmung keine Rolle spielte. Autoritäre Familienstrukturen, hierarchisch organisierte Bildungssysteme und ein Arbeitsleben, das auf Effizienz statt Dialog ausgelegt ist, haben viele Menschen eher zu funktionierenden als zu mitgestaltenden Bürger:innen gemacht.
Eine demokratische Gesellschaft lebt nicht allein von ihrer Verfassung, sondern vom alltäglichen Miteinander – in Betrieben, Familien, Nachbarschaften. Der Begriff der „Demokratiebildung“ muss deshalb weit über Schule und Politik hinaus gedacht werden. Partizipation im Erwachsenenalter ist gelebte Demokratie – oder gar keine.
Wenn Erwachsene die Erfahrung machen, dass ihre Stimme zählt, wächst ihre Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. In politischen Gremien, aber auch in Elternabenden, Teamsitzungen oder Nachbarschaftstreffen zeigt sich, ob Menschen sich eingebunden fühlen – oder abgehängt. Demokratie ist kein Zustand. Sie ist ein Tun.
Der Politologe John Dewey schrieb bereits 1916:„Demokratie ist mehr als eine Regierungsform – sie ist eine Lebensform.
“Und diese Lebensform beginnt mit der Haltung, den anderen nicht als Gegner, sondern als Mitgestalter zu sehen.
In Organisationen wird Partizipation oft methodisch eingefordert – durch Teamsitzungen, Zielvereinbarungen, Feedbackrunden. Doch diese Instrumente bleiben leer, wenn ihnen keine innere Haltung zugrunde liegt: die Haltung, dass jede:r etwas Wesentliches beitragen kann.
Diese Haltung ist nicht immer bequem. Sie fordert Zeit, Geduld und eine Kultur des Zuhörens. Sie verlangt, Widerspruch auszuhalten, Perspektiven nebeneinanderstehen zu lassen, Komplexität nicht vorschnell zu vereinfachen. Doch genau das ist das Wesen partizipativer Prozesse: Sie sind Aushandlung statt Ansage, Entwicklung statt Vorgabe.
Wer als Leitungskraft etwa Entscheidungen nicht allein trifft, sondern in den Prozess geht – mit allen Beteiligten –, schafft nicht nur bessere Ergebnisse. Er oder sie schafft Vertrauen, Bindung und Motivation.
Erwachsene, die in ihrer Kindheit echte Beteiligung erlebt haben, treten mit einem gestärkten Selbstwert in die Welt. Sie kennen das Gefühl: „Meine Meinung ist etwas wert.“ Sie wissen, wie es sich anfühlt, in einer Gemeinschaft etwas bewirken zu können – weil sie es früh erprobt haben.
Doch auch Erwachsene ohne diese Erfahrung können Beteiligung lernen. Durch neue Begegnungen, durch Räume, in denen sie gehört werden, durch Gemeinschaften, die echte Mitsprache ermöglichen. Denn Partizipation ist nicht nur eine Kindheitserfahrung – sie ist ein lebenslanger Lernweg.
Schlusswort
Partizipation beginnt nicht in Sitzungen oder Konzeptpapieren.Sie beginnt in Blicken, im Zuhören, im stillen Fragen.Sie wächst dort, wo Menschen nicht übereinander, sondern miteinander sprechen.
Wenn ein Kind gefragt wird, ob es seinen Namen selbst schreiben will. Wenn eine Kollegin ihre Idee nicht nur vorträgt, sondern Gehör findet. Wenn eine Gesellschaft nicht nur verwaltet, sondern gestaltet wird – dann schlägt Partizipation Wurzeln. Mögen wir mutig sein,unsere Stimmen zu erheben und andere Stimmen zu hören. Denn Teilhabe ist nicht nur ein Recht –sie ist eine Haltung, die unsere Welt menschlicher macht.
Literaturverzeichnis
• Ainsworth, Mary & Bowlby, John (1973): Bindung – das sichere Fundament.
• Bandura, Albert (1997): Self-efficacy: The Exercise of Control. Freeman.
• Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2013): Kinderrechte
verwirklichen – Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland.
• Deci, E. & Ryan, R. (2000): The “what” and “why” of goal pursuits: Human needs and the self-
determination of behavior. Psychological Inquiry.
• HEP – Hessischer Bildungs- und Erziehungsplan (2016): Bildung von Anfang an.• Hüther,
Gerald (2011): Was wir sind und was wir sein könnten. Fischer.
• Prengel, Annedore (2010): Pädagogik der Vielfalt. Wiesbaden: VS Verlag.
• Rosenbrock, Rolf (2020): Partizipation als Schlüssel zu Gesundheit und Empowerment. In:
Bundeszentrale für politische Bildung.
• Weisband, Marina (2022): Wir können das besser. Wie Politik neu gemacht wird. Tropen.